Donnerstag, 17. September 2009

Buch 5 - Travancore und Khajuraho

(Die Einführung zu dieser Geschichte über Ragi und Stefan
steht im Buch 1 unter http://RagiundStefanEins.blogspot.com )
(für alle meine Google-Blogs: http://Mein-Abenteuer-mein-Leben75.blogspot.com )
(dieser Blog "Buch 5" hat die Adresse: http://RagiundStefanFuenf.blogspot.com )

A short introduction:
Hello, friends in Travancore who have opened this blog. The whole story "Ragi und Stefan ..." is a love story, in a way fictitious, but very much tantra. Kapitel X and other chapters I have experienced myself when I lived in Ernakulam in 1965/66 and visited India later. The concert happened in a house - not Nambudiri but a smaller house next to the YMCA-hostel. This is long ago, yet I am still happy that I could live those months in the South of India, it is all very beautifull and charming to me. And it still lives in me, in my heart.


The main story about Ragi and Stefan happened - fictitious - about 1949 in North Germany where I (17) met a young girl, Ragi (17), whose father had been an indologist, a research fellow on Indian culture - all my invention - and said to his German professor, let us go into Indian Tantra, that is the crown of Indian culture. But his prof. did not like the idea and said, that is not pure Indian culture, it is an aberration. So the father - Prakash named by his Indian Guru - got a fellowship from USA and went alone and studied Tantra (what in reality I studied from Rajneesh much later), including Khajuraho (see here: http://khajuraho-mein-tantra.blogspot.com/ and the following Khajuraho-blogs). Dr. Prakash died during WWII in the Dehra Dun camp. But all his research material finally arrived at Ragi´s mother, Anuragini (her sannyas-name), through a professor from Kolkata, his friend, Shivadas Chacravarty (also fictitious). And the mother taught her daughter what she had found in Prakash´s papers. A part I describe in these blogs.


If you like you may write a few words in the comments, thank you.



 


Kapitel IX - Leben mit dem Körper: auf und ab, und in der Seele auch


... denn die Welt kennen die anderen doch auch nicht, glauben es nur. Und auch ich lerne nur einen Teil der Welt, lerne vielleicht ein wenig mehr als die anderen, — über den eigenen Körper und über mich und über die Tiefen des Mensch-Seins:

... auf ihrer von Weinlaub überdachten Veranda sitzt Anuragini und hört von der Schallplatte ein Violinkonzert von Bach. Ich sage, gerne würde ich diese Musik verstehen, schon deswegen, weil du sie liebst. Anuragini bietet mir an, mir eine leichte Massage zu geben, während sie das Konzert von der Platte nochmal von vorne spielen lässt. Sie deutet auf eine Bank, die da steht und sagt, das ist auch eine Art von Verstehen. — Es ist das Konzert E-dur von Bach, das von Tibor Varga gespielt wird. — Ich bin bald so begeistert und ergriffen, daß ich den Namen des Geigers immer behalten werde.



Bild 24: Anuragini holt ein gerahmtes Foto aus ihrem Zimmer,
das sie dort neben ihrem Bett hängen hat

Ich ziehe mich aus und lege mich nackt auf die Bank. Anuragini tropft etwas duftendes Öl auf meine Brust und den Bauch, und legt mit der rechten Hand die Nadel auf die Schallplatte. Sie berührt meine Haut noch nicht, sie hält die Hände darüber und sagt, spüre die Nähe meiner Hand. Ich sehe, wie sie die Hände in der Luft langsam über meinen Körper hinweg bewegt. Noch während des ersten Satzes des Konzerts sinken die Hände auf meine Brust und dann verteilt sie mit der linken Hand langsam das Öl, in immer größeren Kreisen. Sie reibt es auch zwischen meine Schenkel, was ich erst fremd finde, aber es ist so viel Vertrauen zu dieser mütterlichen Frau, ich genieße es, wie sie das Öl leicht an meine Hoden und den Lingam reibt. Ich bekomme eine schwache Erinnerung an meine ganz frühe Kinderzeit, wenn meine Mutter mich einölte ... Die Hände werden wieder still, zuerst liegen sie an einer Stelle, dann streichen sie leicht hin und her, ohne Druck, ohne System. Der Rhythmus der Musik und die Melodie beginnen sich über die Hände meinem Körper mitzuteilen. Wie zwischendurch die langsame Stelle kommt, verharren auch die Hände, und Wärme strömt in meine Haut — und wie es wieder lebendiger wird, kommt die Lebendigkeit der Hände auch zurück. Alles ist sehr fein, Anuragini hat eine feine und unendlich weite Seele, die ich durch ihre Hände spüre, und durch die Musik. Die sie mal mit eben dem Solisten Tibor Varga in einem Konzert gehört hat.

Wie der zweite, langsame Satz beginnt, nimmt sie die Hände hoch und streicht sehr fein mit nur zwei Fingern an meine Kehle. Die Finger streichen über meinen Hals und das Gesicht, die Wangen entlang, über die Lippen, unter die Augen und dann über die Augendeckel, ganz kann ich mich hingeben, voller Vertrauen: nichts wird den Augen geschehen. Unter ihren Fingern genieße ich die Weichheit meiner Haut. Anuragini setzt sich bald hinter meinen Kopf und schiebt ihre geöffneten Hände drunter, leicht hebt sie ihn an und bewegt und dreht ihn etwas hin und her, ganz unregelmäßig und einfach, der Kopf gibt sich hin und lässt es geschehen ohne sich zu sträuben. In ihren geöffneten Händen liegt er, und es ist ein Wunder, wie er leicht von ihnen getragen wird, ich brauche nichts zu tun, ich bin ganz hingegeben, lasse den Kopf in ihrer Hände-Schale liegen. Sie sagt, spüre, wie ich ihn bewege, spüre, wie die Wirbel, die Muskeln bewegt werden, spüre auch, wo es einen Widerstand gegen mein Tun gibt, wo die Muskeln sich krampfen. Da bleibe ich für einen Augenblick stehen und du merkst, wo Verspannungen sind und sich auflösen, und dann gehe ich weiter.

Im dritten Satz wird das Streichen lebendiger, wie im Tanz oder wie auf dem Klavier trippeln Anuraginis Finger über Bauch und Brust, streichen mal links, mal rechts an die Hüften und die Schenkel entlang. Fest greifen ihre Hände in meine Beinmuskeln und massieren sie, immer wieder tropft sie ein Haut-Öl in ihre Hände. — Da ist das Konzert feierlich zu Ende gegangen, Anuragini aber streicht weiter, die Beine entlang bis zu den Füßen, massiert sie zwischen ihren Handflächen und streicht kräftig, und dann weicher den Körper wieder nach oben bis an die Stirn, deckt mich mit einer Decke zu und sagt, nun bleibe etwas liegen und erfahre, was sich alles in dir bewegt — oder still ist.

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Ragi sagt ein paar Tage später, sie liebt (auch) einen anderen Jungen. Oh Schreck, was nun ? Liebt sie mich nicht mehr? Eine große Trauer erfüllt mich, ist dieses Schönste meines Lebens schon zuende? Einige Tage schleiche ich trübe und mit grauen Augen umher, mag gar nicht mehr im Blauen Haus wohnen. Was soll ich hier? frage ich mich immer wieder.

Bald darf ich aber lernen, daß ihre Liebe zu Anderen keinen Abbruch zur Liebe zu mir tut, das sagt Anuragini, sie erklärt mir die Sache mit der Verhaftung (Anhaftung) an eine andere Person:

Erst wenn wir uns von dem Drang, uns an jemanden zu binden, frei gemacht haben, eine Ablösung, losgelöst haben, dann können wir alle lieben, sind wir liebe-voll. Doch, das klingt mir zu theoretisch. Ich bin nahe am Weinen, es ist plötzlich alles so ungewiß! Was wird nun, wird dieses alles nur als ein schöner Traum mit Trauerrand zurückbleiben und nichts sonst? Ganz schwarz ist mir nun. Anuragini sagt noch viel dazu:

Verhaftung kommt aus Angst, kommt aus Mangel an Wachheit. Aus Mangel an Wachheit klammern wir uns an andere Menschen, um Sicherheit zu erhalten, Sicherheit erhoffen wir uns von einer Bindung. Wenn diese Bindung sich auflöst, weil der andere weggeht oder gar stirbt, verliere ich die Sicherheit. Die Rettung ist nur, wacher zu werden und endlich zu mir selbst zu finden, und in mir die Sicherheit zu finden ... in meinem Becken zu ruhen, könnte ich sagen, da liegt alles drin. Dein Becken am unteren Ende des Körpers ist wie dein Fundament der Sicherheit.

Wir denken zu leicht, ein anderer Mensch gibt uns die Sicherheit. Doch der will das gar nicht, und dann sind wir etwas wie gewalttätig, indem wir die Sicherheit von ihm verlangen!
Bald finde ich diesen Weg, denn Anuragini zeigt mir, wo dieser Weg ist.

Es dauert eine Woche oder zwei, in denen ich mich von Ragi zurückhalte, obwohl sie versucht, in meiner Nähe zu bleiben. Wirr fliegt allerlei in meinem Kopf umher, ich fühle mich allein gelassen, weg geweht, nachdem ich mich auch von meiner Familie weit entfremdet hatte. Doch nach Anuragini´s Ratschlag komme ich bald wieder auf den Boden. Ich kann mich nach diesem düsteren Schreck nun in stiller Liebe daran freuen, wenn Ragi mit einem anderen „ins Bett geht“, es ist doch ihr Weg, und so liebe ich sie, wie sie sich selbst entscheidet. Nein, ich zögere, denn so einfach ist das nicht. Ich nehme mir mühevoll vor, daß meine Liebe zu ihr heißen soll, ihr die volle Entscheidung für sich selbst zu überlassen, sie ist klug genug, das selbst zu wissen. Doch voller Schmerzen ist es, und das sind meine Schmerzen.

Ich denke, bald wird sie auch mit mir wieder die tantrischen Liebesspiele spielen — diese Hoffnung baue ich mir auf, ob das wohl richtig so ist? Und auch ich „darf“ und kann meine Erfahrungen an andere Mädchen weiter geben und sie umarmen und küssen — ohne Angst zu haben, daß Ragi mir das übel nimmt oder mich „verlässt“. Doch dazu habe ich jetzt aber keine Lust, also bleibe ich seelisch ein Einsiedler ... Meine Stimmung ist sehr einsam, bedrückt gehe ich umher, und wenn Anuragini nicht da gewesen wäre, hätte ich das Blaue Haus wohl verlassen und wäre voller innerer Kälte zu meinen Eltern zurückgekehrt und hätte mich dort in irgendeine dunkle Ecke verkrochen, auf den Dachboden vielleicht. Ragi habe ich kaum angesehen, so voller Schmerz war ich. Und habe dabei innerlich geweint.

Nun gibt der Dichter Heinrich Heine mir aber einen kleinen Trost mit seinen hilflosen Liebesgedichten. Ihm ist es noch ärger ergangen, sehe ich. Anuragini gibt mir sein "Buch der Lieder" und sagt, blätter mal darin, vielleicht findest du was für dich. Was mir davon am nächsten kam, habe ich hier mal aufgeschrieben:



Ich hab im Traum geweinet,
Mir träumte, du lägest im Grab.
Ich wachte auf, und die Träne
Floß noch von der Wange herab.

Ich hab im Traum geweinet,
Mir träumt', du verließest mich.
Ich wachte auf, und ich weinte
Noch lange bitterlich.

Ich hab im Traum geweinet,
Mir träumte, du bliebest mir gut.

Ich wachte auf, und noch immer

Strömt meine Tränenflut.


##

Ich stand in dunkeln Träumen
Und starrte ihr Bildnis an,

Und das geliebte Antlitz

Heimlich zu leben begann.

Um ihre Lippen zog sich

Ein Lächeln wunderbar,

Und wie von Wehmutstränen

Erglänzte ihr Augenpaar.


Auch meine Tränen flossen

Mir von den Wangen herab --

Und ach, ich kann es nicht glauben,
Daß ich dich verloren hab!


##

Der Traurige

Allen tut es weh im Herzen,

Die den bleichen Knaben sehn,

Dem die Leiden, dem die Schmerzen

Aufs Gesicht geschrieben stehn.


Mitleidvolle Lüfte fächeln

Kühlung seiner heißen Stirn;

Labung möcht ins Herz ihm lächeln

Manche sonst so spröde Dirn.


Aus dem wilden Lärm der Städter
Flüchtet er sich nach dem Wald.
Lustig rauschen dort die Blätter,
Lustger Vogelsang erschallt.


Doch der Sang verstummet balde,

Traurig rauschet Baum und Blatt,

Wenn der Traurige dem Walde

Langsam sich genähert hat.


##

Der arme Peter
1
Der Hans und die Grete tanzen herum,

Und jauchzen vor lauter Freude.

Der Peter steht so still und stumm,

Und ist so blaß wie Kreide.


Der Hans und die Grete sind Bräutgam und Braut,
Und blitzen im Hochzeitgeschmeide.

Der arme Peter die Nägel kaut

Und geht im Werkeltagskleide.

Der Peter spricht leise vor sich her,

Und schaut betrübet auf beide:
Ach! wenn ich nicht gar zu vernünftig wär,

Ich täte mir was zuleide.


2

"In meiner Brust, da sitzt ein Weh,
Das will die Brust zersprengen;

Und wo ich steh und wo ich geh,

Will's mich von hinnen drängen."

"Es treibt mich nach der Liebsten Näh,
Als könnts die Grete heilen;

Doch wenn ich der ins Auge seh,

Muß ich von hinnen eilen."


"Ich steig hinauf des Berges Höh,

Dort ist man doch alleine;

Und wenn ich still dort oben steh,

Dann steh ich still und weine."


3
Der arme Peter wankt vorbei,
Gar langsam, leichenblaß und scheu.

Es bleiben fast, wenn sie ihn sehn,

Die Leute auf der Straße stehn.


Die Mädchen flüstern sich ins Ohr:

"Der stieg wohl aus dem Grab hervor."
Ach nein, ihr lieben Jungfräulein,

Der legt sich erst ins Grab hinein.


Er hat verloren seinen Schatz,
Drum ist das Grab der beste Platz,

Wo er am besten liegen mag

Und schlafen bis zum Jüngsten Tag.


Und es wird mir besser, denn so schlimm wie dem armen Peter ergeht es mir denn doch nicht, doch verstehen kann ich es, wie er leidet. Ja, etwas lache ich wieder und werde ein wenig fröhlich. Dieser Heine hat doch die Liebesschmerzen am besten erfasst, wenn es ihm auch schlimmer ergangen ist als mir.

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Kapitel X - Prakash´s Brief aus Travancore

Das Leben ändert sich wieder und wieder: die indische Musik verwundert mich sehr. Ich höre sie im indischen Radiosender, den Anuragini manchmal rein bekommt, knatternd und pfeifend, und ich kann die Musik von den Störungen noch nicht unterscheiden. Doch sie scheint zu meiner noch immer bedrückten Stimmung zu passen. Anuragini hat drei Schallplatten mit dieser von mir früher nie gehörten Musik. Sie sagt, in Indien ist das die alltägliche Musik, sie haben nicht diese Schlager und Operetten, die wir meistens von unseren Sendern hören (Endnote 30). So sentimental wie ihre Musik scheinen die Menschen auch zu sein: mit alten Augen schon von Geburt an, immer ein wenig traurig, vielleicht denken sie an ihre früheren Jahrhunderte, als es in Indien noch groß und reich zuging, voller blühender Kultur. Und sie zeigt mir einen Brief, den ihr Mann ihr mal aus Indien schickte. Da ist ein Haus gezeichnet, und er schreibt über ein Erlebnis mit der Musik, das er in diesem Haus in einer kleinen Stadt ganz am Südende von Indien hatte, im kleinen, früheren Königreich Travancore:

Bild 25: Nambudiri-Haus in Travancore (Kerala, Süd-Indien)

Gestern abend ging ich durch diese Stadt, es war schon seit ein paar Stunden dunkel, doch noch brannten die kleinen Öllämpchen vor den Hütten und Häusern, sie werden "Deepa Lakshmi" genannt. Meistens ist es sehr still, die Nachtluft ist warm und es duftet nach den AgarBathi, den Räucherstäben, die die Leute angezündet haben. Doch es duftet auch nach Blumen. Ich höre ein paar Tiere, am etwas vom Mond erhellten Himmel sehe ich die Silhouetten der gemächlichen Fliegenden Hunde, vor mir läuft eine Art Iltis fort. Und wenn eine kurze Brise vom Meer kommt, rasseln die Blätter der Cocospalmen.

Anuragini zeigt mir eine kleine Figur, von der sie mir später ein Foto gibt, das ich euch oben im Bild 26 zeige, — das ist eine kleine Deepa Lakshmi, die Öllampe, von der Prakash schreibt. Er hat noch ein paar Fotos in den Brief gelegt, auch die untere Deepa Lakshmi. Weiter in Prakash´s Brief:



Bild 26: 2 Deepa-Lashmi-Leuchten aus Travancore, Öllämpchen,
etwa handspannen-groß, Bronce

Dann, hinter einer hohen Mauer hörte ich diese Musik, die ich so liebe. Im Tor stand ein Mann, der den Eingang bewachte, er trug einen einen Meter langen Bambusstock in der Hand, seine Waffe gegen unerwünschte Eindringlinge. Doch dieses Land Travancore ist ja so friedlich! Ich fragte ihn auf englisch, das er nicht verstand, dann in Hindostani, das er auch nicht verstand, aber nun rief er jemanden aus dem Haus. Ein Mann kam, der ganz gut englisch sprach und dem ich sagte, daß ich gerne die Musik hören möchte. Sehr freundlich lud er mich ein. Er ist der Hausherr und stellt sich mit Narayaanan vor, und er wunderte sich, daß ich einen indischen Namen trug, Prakash hatte mich die Ma-Lakshmi-Guru ja genannt.

In einem größeren Raum saßen ein paar Leute, und am einen Ende spielten zwei Männer und eine Frau Instrumente und eine weitere Frau sang. Ihnen gegenüber, am anderen Ende des Raumes war ein Altar aufgebaut, auf dem sich eine Bronzefigur von Shiva und Shakti mit einem ihrer Söhne, Skanda, befand (wie auf Bild 04, Buch 2), geschmückt mit duftendem Rauch von einem Bündel Räucherstäbchen.

Die Musiker saßen auf einem kleinen Podium, auf einem bunten Teppich. Vor ihnen stand eine kleine Metallfigur der Göttin Saraswati, in der die Hindus die Gottheit der Künste und Wissenschaften verehren. Später habe ich mir eine Sarasvati-Skulptur gekauft (Bild 27, sie steht nun in Anuragini´s Haus, hier ein Foto dieser Figur aus neuerer Zeit).


Bild 27: Sarasvati, die Götting der Künste und Wissenschaften,
Kupfer, 15 cm hoch, aufgenommen vor
einem Papier, auf das das Feuer der Seele gemalt ist,
die sich nach dem Feuer der Musik sehnt.

Ein schwerer Bronzeleuchter stand im Raum, auf dem eine Menge von kleinen Ölflämmchen brannten, auf einem Teller mit vielen Schnaupen, und ein gleicher Leuchter stand bei den Musikern. (Bild 28).


Bild 28: Bronze-Ölleuchter aus Travancore

Und nochmal ein Bündel glimmender Räucherstäbchen. Es ist warme Tropennacht, doch es ist nicht mehr so feucht-heiß wie am Tage, durch die vergitterten Fenster kommt frische Abendluft herein, und der Rauch der Stäbchen zieht ab, so daß die Luft im Raum klar bleibt und doch duftet. Ich sehe mir den Raum an. Er besteht aus dunklem Gebälk. Narayaanan hatte mir später in einer Pause, erläutert, daß dieses ein traditionelles Haus einer Nambudiri-Brahmanen-Familie sei, eine reiche Landbesitzerfamilie. Er selbst ist der Eigentümer. Das Holz nenne man auf english Rosewood (Endnote 31) und es würde von Termiten nicht angefressen.

Nun endet die Musik für eine Weile, und alle bekommen von der Hausfrau, die vorher etwas ins Dunkle zurück gezogen im Türrahmen stand, ein Glas mit kühlem Lassie, ein kühles Getränk aus gerührtem Joghurt und Zitrone. Man kommt ins Gespräch, und ich werde bald gefragt, woher ich käme und all das. Zuerst fiel mir auf, daß die Leute langsam und gelassen sprachen. Mir schien, die Musik hatte eine Stimmung geschaffen, so wie sie selbst war, duftend, leise, freundlich und fröhlich, doch auch ein wenig sentimental, vielleicht dekadent. Narayaanan geht nun zum Altar, legt die Handflächen zusammen und grüßt den Altar und die Gottheiten und singt ein paar Verse zu deren Ehren. Es sind die Gottheiten, denen Menschen-Frau und Menschen-Mann ihre Liebe widmen, und von denen sie ihre Kraft bekommen, die Frau die Fraukraft von Shakti, der Mann seine Mannkraft von Shiva.

Sofort fühle ich mich an meine Liebe erinnert, an meine vergebliche Liebe zu Ragi, und ich werde wieder traurig. Nach ein paar Minuten, in denen mir ein paar Tränen fließen, versuche ich weiter zu lesen. Ragi kommt heran und legt mir von hinten eine Hand auf die Schulter, da fließen meine Tränen erst recht, und schluchzend gestehe ich ihr meine Schmerzen. Sie kommt herum und sieht still und lange in meine Augen, die nur Verschwommenes sehen. Leise streicht sie über mein Gesicht und sagt, Tränen sind so etwas Gutes und Schönes, weißt du denn nicht, daß ich dich liebe wie immer zuvor? Und wir umarmen uns lange und mit tiefem Sehnen. Nach langer Zeit lese ich in Prakasch´s Brief weiter:

Narayaanan ist ein sehr guter Sänger in vedischen Gesängen, also devotionaler Gesänge an die jeweilige Gottheit. Er singt nach einer Dhrupad-Tradition, die sehr alt ist, es wird nur die Tambuura als Begleitung benutzt, manchmal auch noch die Mrdangam.

Nach einer halben Stunde setzen sich alle wieder hin und die Musiker begannen ein anderes Stück. Ich sollte Dir jetzt mal schreiben, welche Instrumente anwesend waren: Als wichtigstes ist da die eine Frau, die singt und entweder von den Instrumenten begleitet wird oder mit ihnen in einer Art Wettstreit singt. Dann ist da das große südindische Saiteninstrument, die Vina (Bild 29). Auch ein trommelartiges Instrument war da, Mrdangam (der zweite Buchstabe r wird etwa wie ri ausgesprochen, wie ein vokales r mit i im Ton) genannt, das wie ein ¾ Meter langes und 40 cm breites hölzernes Rohr ist, an beiden Enden mit einem Trommelfell versehen, allerdings zwei verschieden große Felle, die mit der rechten beziehungsweise der linken Hand geschlagen wurden. Als eine Art Hintergrund wurde von der einen Frau auf einem zweiten Saiteninstrument ein Dauer-Akkord gezupft, sie nennen es Tambuura. Zuerst erläuterte der Vina-Spieler die Musik in seiner Sprache Malayalam, dann auch in Englisch für mich. Es ist eine Anbetung und ein Dank an das Götterpaar Shakti und Shiva, denen wir Menschen die Schönheit der Liebe verdanken — nicht nur Sex („Kama“ sagt er) wie bei den Tieren sondern tausend mal mehr.


Bild 29a: eine Vina/Veena, gespielt im Park von Khajuraho

Die Tamboura beginnt mit ihrem einfachen Dauer-Akkord, gleichmäßig auf den vier Saiten angestrichen von den Fingern der Spielerin. Obwohl es so einfach aussieht und klingt, ist das Spiel der Tamboura sehr wichtig, damit die anderen Spieler die Tonhöhe rein in gleicher Höhe halten können. Die Sängerin beginnt einfach mit einer einfachen Tonfolge, eine einfache Melodie, die Grundkomposition. Sie singt die Namen der Laute in ihrer Tradition, die dem italienischen do-re-mi-fa-sol-la-ti-do entsprechen. Eine lange Zeit singt sie so, es entsteht eine Stimmung, die aus ihrem einfachen Singen aufsteigt. Für mich ist es die nächtliche Stimmung der südlichen, äquatornahen Tropennacht. Doch die Hindus hören darin den Gesang Gottes, den großen universalen Ton, der hinter allem Hören auftaucht. Diese Phase nennen sie Alap.

Nach wohl einer viertel Stunde beginnt die Mrdangam mit einer rhythmischen Begleitung, die anfangs sehr einfach ist. Der Rhythmus wird im Laufe der Zeit komplizierter, als die Vina auch zuspringt. So singt die Frau eine einfache Melodie, doch sie variiert die Laute sehr virtuos, schleift von einem Ton zum anderen mit großer Kunstfertigkeit. Oft nutzt sie ein Tremolo, doch dann ist sie auch wieder still und lässt den Instrumenten den Vortritt. Dann treten sie in eine Art Wettstreit, sie singt eine Passage vor und wird von einem Instrument nachgeahmt — will ich mal sagen — mit einer eigenen Deutung des Themas. Langsam steigt sie aus der Begrenzung der einen anfänglichen Oktave heraus und wagt sich in höhere Oktaven, immer weiter, und je weiter sie sich vom Anfang entfernt, desto mehr stimmen die Zuhörer zu durch Kopfnicken und anerkennende Laute.

Der Rhythmus, von der Mrdangam gespielt, wird immer komplizierter und für mich kaum noch zu durchschauen. Dennoch ist das Ganze recht gleichfömig und dauert so über eine Stunde an — eine feierliche und anbetende Stimmung ensteht zu Ehren der Gottheiten — feierlich, da die Musik nicht zu lebendig ist. Die Zuhörer werden mit dem Fortgang der Musik ein wenig lebendiger — doch zu tanzen beginnen sie nun auch nicht.

So geht es über Stunden, mit langen Pausen, in denen alle kühle Getränke und kleine Häppchen bekommen. Kleine Kinder schlafen schon in den Armen der Erwachsenen, die größeren sitzen still und aufmerksam wie die Alten. Die Nachttiere hört man auch nicht mehr, so still ist es in den Pausen. Jemand sagt leise, hört mal auf die Stille zwischen den Tönen — noch mehr die Stille, wenn die Musiker eine Pause machen.

Nach Stunden, es beginnt im Osten hinter den Bergen schon etwas hell zu werden und die Morgenvögel beginnen zu singen, verabschieden uns die Gastgeber. Jeder Gast — auch die Musiker — bekommt von der Dame des Hauses eine kleine Orange geschenkt, in die in paar Gewürz-Nelken gesteckt sind, das Abschiedsgeschenk. Voller Andacht und sorgsam trage ich das Geschenk in das Haus, in dem ich bei Freunden wohne, bei der Familie des alten Professors T. S. ShankaraNarayaanan Iyer (versuche das mal schnell zu sagen). Auf den Straßen sehe ich weiße flatternde Gewänder: einige Leute gehen zum Tempel zu einer Morgenandacht.

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An einem der Tempel komme ich vorbei und höre aus dem Tempelhof einfache Flötenmusik. Doch ein paar hundert Meter weiter liegt eine Moschee, zu der die Moslems ebenfalls gehen, auch sie zu ihrer Andacht, zum Morgengebet. Von weitem hatte ich schon den Muezzin rufen gehört, nicht von einem Minaret, das es hier nicht gibt, sondern einfach vom Dach der Moschee.

Ich sehe durch das Tor des Tempelhofes und sehe eine große Bronzefigur, eine riesige Deepa Lakshmi. In ihrer Deepa, der Lampenschale, brennt eine große Flamme, die den Tempelhof erhellt. (wie Bild 26).


Diese musikalische Nacht hat mich zu einem Hindu gemacht. Ein paar Tage später treffe ich den Gastgeber auf der Straße, und er lädt mich ein, mit ihm in den Tempel zu gehen. Er bittet mich, statt der europäischen Hose ein weißes Tuch, den Dhoti — ein langer weißer Wickelrock — anzuziehen und die Schuhe in seinem Haus zu lassen. Der Oberkörper bleibt frei, und er legt mir ein zusammengefaltetes weißes Tuch über die linke Schulter. Es ist warm, und ein wenig Wind lässt unsere Gewänder wehen, die kühle Brise umschmeichelt den Körper.

Das ist in diesen feuchten und heißen Tropen etwas sehr Angenehmes, man kann auch keinen Schlüpfer anziehen, denn dann würde die Haut schnell rot und wund werden. Sehr leichte Art sich zu kleiden.

Da ist ein dunkles Tor, eine eigenartige Bauart, wie sie wohl nur hier inTravancore vorkommt:

Bild 29b: das Tempeltor, 
innen im Hof liegt der eigentliche Tempel
 
In der Nähe der Tempelgebäude ist ein Teich mit Treppen auf allen vier Seiten gebaut, wir gehen eine Treppe hinunter, ziehen uns aus und gehen ins Wasser, in den Handschalen schöpfen wir Wasser und gießen es über unseren Kopf — eine rituelle Waschung.

Bild 29c: dieser Tempel in Uttar Pradesh in Nordindien 
sieht anders aus, aber der Teich ist auch da.


Diesen Tempel hatte ich noch nicht von nahem gesehen. Durch ein Tor, das von allerlei Holzdekorationen geschmückt ist, gehen wir hinein. Eine kleine Säulenhalle mit Ziegel-Dach. Viele Menschen sind hier, alle gekleidet wie wir, die Frauen haben ein weites Tuch um den Oberkörper geschlungen. Lang hängen die schwarzen Zöpfe hinab, geschmückt mit eine Kette von duftenden weißen Blüten.

Narayaanan führt uns im Kreis einige Male links herum um das Allerheiligste des Tempels, ein Altar mit Säulen in der Mitte der Tempelhalle. Darin steht ein kleiner Schrein, in dem sich die Figuren von Shiva und Shakti befinden. Ein paar Butterlampen erhellen den Schrein, und wir sehen wie die Bronzefiguren der Gottheiten mit schweren Seidengewändern umhüllt sind. Dunkle Rauchwolken der Räucherlampen hüllen den Raum von innen ein. Ein Priester hält uns ein Tablett hin, auf dem ein Butterlicht brennt, das er vorher durch Schwenken vor den Gottheiten geheiligt hat, und auf dem ein Häufchen mit hellgrauem Pulver liegt. Narayaanan hält seine Hände mit der Innenfläche nach unten gewölbt kurz über die Flamme und dann über seinen Kopf, sich mit der Kraft der Gottheiten segnend. Alle tun es so, und ich auch. Dann nehmen wir etwas von dem Pulver und streichen es uns über die Stirn, vier waagerechte Streifen — ein Zeichen, daß wir im Tempel waren.

Ich fühle mich nun tief geheiligt. Gerne würde ich Dir diese Schönheiten zeigen und sie mit Dir erleben. Vielleicht wird es uns mal gelingen. Die Heiligkeit dieser Rituale — ich habe sie Dir nur angedeutet, es ist viel mehr — ließen in dieser ganzen Kultur eine große Heiligkeit entstehen. 

Ich frage Narayaanan wie es kommt, daß sich diese Religiosität so lange so rein erhalten konnte. "Nun ja, so rein ist sie nicht, es gibt allerlei Abwege, die auch schmutzig sind, nach meinem Gedschmack, so wie die großen Blutopfer für Kali in Bengalen."


"Doch eines ist wichtig für dein Verständnis und für deine Forschungen. Wenn wir in den Tempel und zur Gottheit gehen, bereiten wir uns sehr vor, reinigen Körper, Geist und wenn es geht Seele. Denn nur in reiner Form können wir alles bekommen." Ich sage, das wäre doch auch die Idee im Christentum und im Islam, wir ziehen doch besondere Kirchgangskleidung an und so weiter.


"Genau genommen," sagt Narayaanan, "geht es bei uns aber viel weiter. Wir möchten einer Gottheit, zum Beispiel Shakti, vollständig begegnen. Deswegen stehen da die Skulpturen dieser Gottheiten. So stehen wir vor dem Shakti-Bild und beleben es mit unserer Seele, ja Seele, nicht etwa nur mit dem Geist - das wäre uns zu wissenschaftlich, sozusagen, zu abstrakt, nicht lebendig. Dann begegnen wir der lebendigen Shakti wie ich sie mir erschaffe. Und dann sind da Rituale der Anbetung, der Hingabe, des Opfers und so weiter. Das kann Stunden oder Tage währen. Doch irgendwann müssen wir wieder gehen, und dann verabschieden wir uns, wir streichen Shakti wieder aus unserem Seelenleben, wie es gerade ist, stellen die Figur wieder in den Schrank oder ziehen einen Vorhang davor, lassen frische Luft herein, tanzen ein wenig fröhlich und dankbar, und schließlich vergessen wir Shakti wieder. Doch den Segen unserer heiligen Hingabe von vorhin bewahren wir im Herzen. Da gibt es viele Rituale der Verabschiedung der Gottheit. Denn wir müssen ja wieder auf die Straße gehen und des Verkehrs gewahr sein, sonst landen wir bald unter einem schnellen Bundi (Pferdewagen). Solche Rituale nennen wir mit einem Sanskritwort "Visarjanam". Nach jedem von geübter Hand geleitetem Puja, nach jeder Prozession wirst du Formen des Visarjanam sehen: da wird das Bild der Gottheit in einen Teich versenkt und unsichtbar gemacht, oder ein Tuch darüber geworfen oder so was, die Lämpchen gelöscht ..."

Durch Rituale wie das Visarjanam können sie die Religion vorm Abgleiten ins Bedeutungslose bewahren Bedeutung für die Seele, darum geht es ja. Durch Visarjanam wird die Seele tief berührt. Denn die Verantwortung für mein Verhältnis mit der Gottheit liegt dann tief in mir selbst, berührt mich dort ganz intim.

Oben schrieb ich,  "...in dieser ganzen Kultur eine große Heiligkeit entstehen." Nur schade, daß fast nur die Brahmanen und andere obere Kasten den vollen spirituellen Nutzen davon haben, die niederen Kasten — sage ich mal — mögen sich da nicht einlassen oder werden gar nicht zugelassen. Ich sehe es als eine Tragik an, daß nicht alle Menschen diesen spirituellen Genuß haben können. Vielleicht kommt es von da-her, daß die Moslems und auch die Christen solchen Missionserfolg hatten. Sie haben für die kleinen Leute etwas mehr zu bieten als sie von den Hindus bekommen, doch insgesamt ist es viel viel weniger.

Ich traf einen Mann aus einer niederen Kaste, der ganz gut englisch konnte, was selten ist. Er erläuterte mir, daß es ziemliche Feindschaft zwischen den Menschen der oberen Kasten und den niederen gäbe. Die ersteren kommen in den Genuß der Tempelbesuches und des Segens des Puja (das ist der Opferdienst), die unteren werden entweder nicht zugelassen oder haben Scheu hinzugehen. Er ginge aber, auch wenn die Brahmanen ihn scheel ansehen, seine ganze Familie ginge hin. Immerhin sei es doch das Geburtsrecht eines jeden Menschen, sich an Gott zu wenden.

Was ich Dir hier geschrieben habe, mag nicht in allen Dingen stimmen. Für einen gelehrten Brahmanen oder einen alten Indienkenner mag mancher Fehler darin liegen, doch ich glaube, daß ich Dir die Stimmung gut zeigen konnte.



Kapitel XI - Shivadas´ indisches Konzert im Garten und Shaktipath

Im Sommer kommt Shivadas ins Haus und bringt noch eine indische Frau und einen deutschen Musiker mit, beide wohnen in London. In Anuragini´s Haus wollen sie ein indisches Konzert geben, eigentlich im Garten. An diesen Tagen beginne ich, Tagebuch zu schreiben, deswegen kann ich Genaueres wiedergeben. Der Londoner Deutsche hat zwei unterschiedliche Trommeln mit, zusammen werden sie Tabla genannt, die Inderin spielt eine hölzerne Querflöte (eine Bambusflöte, Bansuri nennt sie sie), und Shivadas hat sich von den Londonern ein Saiteninstrument mitbringen lassen, eine Tambura, er wird die Tambura spielen und er will singen.

Erstmal bewundere ich die Inderin, sie trägt lange schwarze Haare und hat eine dunkle Haut, viel dunkler als Ragi noch. Auf der Stirn hat sie zwischen den Augen einen roten Fleck gemalt, und bekleidet ist sie mit einem bunten Gewand, ein Sari, sagt Ragi. Die Frau wird Devi genannt, aber eigentlich heißt sie anders, habe vergessen, wie. Um den Hals trägt sie eine kostbare Kette, sie ist aus bunten Steinen, Edelsteinen denke ich, gezogen und hat in der Mitte ein goldenes Medaillon, und wenn sie es öffnet, ist da wieder dieses Zeichen "Om" drin, in blauer Emaille — erläutert sie — in silbernem Grund gezeichnet und eingelassen.

Die Inder sind aus Bengalen, alle drei spechen Bengalisch miteinander, sehr seltsam für mich zu hören. Wieder und wieder höre ich den Ausruf "Atsch-ha", was so viel wie "gut", "so also" heißt, und wenn sie etwas besonders wundert, betonen sie die letzte Silbe und ziehen sie noch lang,
"Atsch-haa".
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Vor dem Konzert habe ich noch ein Gespräch mit Shivadas. Er spricht deutsch, denn er hat mal drei Jahre in Heidelberg studiert.

Wenn du fragst, wo dein Weg hingeht, und was du dazu beizutragen hast, dann kann ich dir nur eine sehr indische Antwort geben. Ich antworte aus der indischen Tantra-Erfahrung. Denn da habe ich meine Wurzeln und Überzeugungen. Da ist meine Heimat.

Dieses blaue Haus ist so was wie eine tantrische Mysterienschule, sagt er und ich wundere mich, was er damit sagen will.

Ich weiß nicht, was das bedeutet, wie das gekommen ist. Hier wirst du tiefer, vielleicht sehr tief in dich hinein geführt: Hier verwendet Anuragini einige Methoden, die in normalen Schulen nicht gebräuchlich sind, sehr fremde Methoden manchmal, die sich an deine Seele wenden, sage ich mal einfach. Das nenne ich eine Mysterienschule. Es ist kein Lernen von Fakten oder Können. Nein es sind Einblicke in dich selbst, oft können wir das nicht mit Worten sagen, nur tief innen fühlen, manchmal mit Tränen oder Lachen, manchmal bleiben wir plötzlich still, manchmal Tage lang. Das sind die Ergebnisse der Mysterienschule.

Nun verstehe ich etwas, was er meint, ich habe sie hier ja schon erlebt, diese Methoden, die die beiden Frauen anwenden, um mich — aber auch sich selbst — weiterzubringen. Und wieso müssen wir so fremde Methoden verwenden, werde ich da nicht schnell zum Inder? —

Bestimmt nicht, denn schon lange lebst du in Deutschland und wirst immer auf deine alten Wurzeln zurückgreifen. Gehe nicht einfach weg. Doch hier im Blauen Haus werden diese Methoden der indischen Mystik angewendet, weil die europäische Mystik verloren gegangen ist, schon lange, schon seit hunderten von Jahren. Doch wir in Indien haben unsere Mystik bewahrt und können ihre Methoden weiterhin anwenden, anwenden für jeden einzelnen zum persönlichen Wachstum, und weitergeben. Ja, sogar weiterentwickeln, modernisieren. Es gibt ein paar moderne Bewegungen, mit denen erfahrene Meister versuchen, die Erkenntnisse des Westens mit den Erkenntnissen des Ostens zu verbinden und Neues zu schaffen. Für alle Menschen. Ich denke dabei an Sri Aurobindo oder Ramana Maharishi in Südindien.

Bleibe du aber bei deinen deutschen Wurzeln, du kannst nicht einfach überwechseln in eine andere, so fremde Kultur wie die meine. — Doch, ja, vielleicht später mal, in fünf oder zehn Jahren ...

Das mit den deutschen Wurzeln fällt mir gerade sehr schwer, nachdem wir Deutschen im Krieg so viel Schrecklichkeiten und Unrecht in ganz Europa angerichtet haben, am liebsten würde ich kein Deutscher sein. Ich sage das, und Shivadas rückt etwas zurecht: du kannst nicht einfach fliehen. Auch wenn du nicht beteiligt warst, keine Leute im KZ ermordet hast, es müssen frische, neue Menschen Verantwortung übernehmen, ohne Schuld und ohne Schuldgefühle, ja. Nur Ihr jungen Leute könnt die Menschheit wieder ein wenig reinigen, indem ihr die Verantwortung übernehmt und tut, was recht ist und tiefmenschlich und in allumfassender Liebe, ihr alle müsst euch beteiligen.

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Anuragini legt einen Teppich in den Garten, auf den sich die Musiker setzen, mit untergeschlagenen Beinen. Devi hat einige Päckchen Räucherstäbchen aus London mitgebracht, die nun ihre Düfte verbreiten.

Ist das alles Indien? Shivadas beginnt die Tambura zu zupfen — so wie Ragis Vater das beschrieben hat. Ganz gespannt sitze ich da und starre auf ihn: ein so schöner Mann! Er ist vielleicht fünfzig Jahre alt. Dunkelbraun seine Haut, fast schwarz die Augen und glänzend schwarz die Haare mit ein paar weißen Spuren des kommenden Alters. Ein weißes Gewand hat er um sich gewunden. Seine Bewegungen sind gelassen wie ich es noch nie bei einem Menschen sah — so still, offen, freundlich.

Shivadas beginnt also mit der Tambura. Nach ein paar Sekunden beginnt sein Singen, zuerst ein „oomm“ in tiefem Ton. Noch fast im Sprechen höre ich „Oomm Schanti Schanti Schanti“ — wie ich später erfahre ist das eine Anrufung um Frieden. Er singt einen tiefen Ton — ohne die Tabla, auch ohne die Flöte. Und nun singt er auch andere Tonhöhen einzeln nacheinander und lässt daraus ein Gebilde von mehreren Tönen entstehen, die alle zusammenpassen, ich höre später, daß diese Töne zusammen den Raga darstellen, also alle Töne, deren die Musiker sich während eines Stückes bedienen werden, es sind etwa sechs diesmal.

Er reicht die Tambura an Devi weiter.

Und so singt Shivadas immer weiter, langsam und gelassen, die einzelnen Töne begleitet er mit den Händen, die auf bestimmte Körperstellen weisen, wo — wie er uns später sagt — die Laute herkommen. Und so klingt diese Musik auch, als ob sie aus verschiedenen Orten im Körper hervorkommt. Jeder Ton wird als eine Silbe gesungen, die keine Bedeutung hat, nur so viel wie in Europa das do-re-mi-fa-sol-la-ti-do oder so ... Nach einer halben Stunde wird Shivadas langsamer und endet, die Tambura spielt weiter — es ist eine sehr fremde und ruhige Stimmung. Es wird nicht geklatscht, darüber freue ich mich, denn Klatschen verdirbt so oft die Stimmung der Musik.

Die Tambura mit ihren Akkorden spielt weiter, wieder in Shivadas´ Händen, doch nun beginnt die Tabla mit ein paar Schlägen und nun beginnt es rhythmisch zu werden, ich finde, nun ist es interessanter. Die Flöte setzt ein und dann auch Shivadas mit seinem Gesang — und nun kann ich es nicht mehr weiter beschreiben, es ist zu viel, schon wieder einmal in diesem Haus. Allein die Stimmung ... ich lasse mich ganz hineinfallen.

Ist das Indien? Ich höre: Ja, es IST Indien, es gibt so viel Schönes in Indien. Die Leute, die Wälder, Wüsten, das Hochgebirge, die Küsten, und einfach das weite und oft beige-graue Land und die Dörfer, und besonders die Menschen. Aber es gibt auch vieles Häßliche in Indien, wie überall, unsere Musik gehört aber zum Schönsten bei uns.

Diese Musik, diese Rhythmen sind so fremd für mich, von so fernher kommend in dieses rauhe Nordseestädtchen.

Ist das alles Indien? Muß das ein großes Land sein, ich meine in seiner Ausdruckskraft! Und damit hat die Ragi so viel zu tun.

Bis zum frühen Morgen dauert dieses Konzert auch diesmal. Es sind ja auch ein paar Gäste da, Freunde von Anuragini.

Ragi und Anuragini reichen in den Pausen Decken, denn es wird etwas kühl, Tee und Säfte und kleines Gebäck — ich denke es ist auch indisch. Ein paar Mal darf ich Gebäck reichen — dieser Duft, der von den Musikern ausgeht, diese Gesichter und Gesten! Ragi, in was für eine Welt hast du mich geführt? Wenn ich diese Gesichter ansehe, dann kommen mir schon wieder die Tränen, so schön ist das alles.
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Die Musiker bleiben ein paar Tage in Anuragini´s Haus, und Anuragini fragt sie, ob wir nicht ein paar Mal zu ihrer Musik meditieren dürfen. Gerne gehen alle darauf ein, und wir treffen uns im Wohnzimmer. Shivadas sagt, er will mit uns ein besonderes Ritual feiern, bei dem Ragi und ich im Mittelpunkt stehen.

Shivadas spielt wieder die Tambura, und die Flötistin hält ihre Bansuri in der Hand. An der Wand hängt nun ein großes Portrait-Foto von einer indischen Frau, das ist ein Bild von Ma-Lakshmi-Guru, sagt Anuragini voller Verehrung. Das Gesicht von Ma-Lakshmi-Guru ist ernst und fröhlich, mit einem Schmunzeln, wie man sagt. Auf die Stirn hat sie ebenfalls einen Punkt gemalt, wie wohl alle Frauen in Indien. Sie ist die Tantra-Meisterin von Prakash und mir. Leider habe ich sie noch nie getroffen, sagt Anuragini.

Shivadas stimmt sein Instrument und beginnt mit diesem Zupfen wie auch gestern abend schon, es klingt wie eine Art Zirpen in tiefen Tönen. Sonst ist es still. Es entsteht ein andauernder Akkord, der im Raum schwebt. Die Flöte spielt ein paar Töne, wohl zur Einstimmung und ist dann wieder still, sie wird wieder in ein Tuch eingewickelt. Shivadas verteilt nun die Plätze. Er und die anderen Gäste sitzen mit untergeschlagenen Beinen auf der Bank, und er zeigt für Ragi und mich auf ein paar Kissen auf dem Boden direkt vor ihm. Wir sollen uns einander gegenüber setzen. Die beiden Buben sind auch im Raum, sind viel ruhiger als sonst und haben sich in eine Ecke verkrochen. Es ist so viel Ehrfurcht in diesem Raum.

Verlegen setzen wir uns hin, legen unsere weiten weißen Röcke (auch ich habe einen angezogen, es ist so feierlicher) zurecht und sehen einander kurz in die Augen, wir behalten die Augen erstmal offen, nach ein paar Minuten richten wir sie auf einen Punkt vor uns auf dem Teppich, ohne uns anzustrengen, und machen sie dann halb zu. Shivadas setzt sich zurecht und nimmt die Tambura wieder auf und beginnt, dann hält er nochmal an und grüßt mit zusammengelegten Händen sich verbeugend das Bild des tanzenden Shiva, Nataraj genannt, und das Bild von Ma-Lakshmi-Guru gegenüber.

Shivadas spielt die Tambura ... ich bin hellwach und sehr aufmerksam, höre und spüre alles außen und innen ... vielleicht eine halbe Stunde sitzen wir so, dann flüstert Shivadas zu Ragi und mir, seht euch in die Augen und bleibt da, ohne zu plinkern. Wir öffnen unsere Augen und ich sehe nun in die Augen von Ragi, lange ... nur gelegentlich plinkern wir ... die Tambura-Akkorde sind weiter in der Luft ... sonst tiefe Stille ... und was ist das für ein Wunder in diesen Augen mir gegenüber ... mir ist als sähe ich nun tief in Ragi´s Seele, durch die Augen hindurch ... Tränen füllen sich langsam in unsere Augen, meine fühle ich, doch Ragi´s sehe ich ... ihre Augen verschwimmen bald, und tiefer kann ich sehen, Ragi ist mir nun so nahe und vertraut, doch auch Fremdes bleibt. Etwas dunkles, ganz tiefes Fremdes.

Nach langer Zeit beginnt mein Körper zu vibrieren, ganz leise, wahrscheinlich sieht das niemand ... das Vibrieren geht weiter und ist nun überall ... jede Stelle im Körper fühle ich und sehe weiterhin in Ragi´s Augen. Es kommt ein Bild vor meine inneren Augen, ein großer steinerner Tempel im heißen Indien, viele steinerne Figuren an den Wänden, vor mir das Allerheiligste, Ragi und ich barfuß in langen weißen Gewändern und mit Räucherstäben in der Hand, vor uns ein Priester, der uns zu einem offenen Feuer geleitet und im Kreis rundherum führt. Dabei berührt er mit einem Finger unsere Stirnen und tupft etwas rote und dann weiße Farbe darauf. Weiter spielt die Tambura ihre Akkorde. Wieder sehe ich in Ragi´s unergründliche Augen. Das Ritual im Tempel ist zuende, und der Priester legt zwei unserer Arme nebeneinander und umwindet sie leicht mit einem Bastband — immer murmelt er heilige Sprüche, und die Tambura spielt die Akkorde im Hintergrund.

Aus unseren Augen fließen nun Ströme von Tränen, unsere Gesichter sind ganz naß, doch unsere Augen bleiben offen und sehen ineinander. Da gibt Shivadas sein Instrument dem Mann neben ihm, der es weiter zupft. Er beugt sich vor und legt seine Hände leicht auf unsere Köpfe. Dann schiebt er sie zu unseren Stirnen und berührt mit den Daumen die Stelle in der Mitte der Stirn. Nun beginnt die Flöte zu spielen, erst langsam, dann bald schneller und rhythmisch, wie staccato. Im Rhythmus mit der Flöte zittert Shivadas nun mit den Daumen auf unseren Stirnen, ich habe das Gefühl, der Daumen senkt sich tief in meine Stirn ein, beuge den Kopf zurück, meine Kehle ist ganz offen und verwundbar. Das Zittern wird wild und wilder ... plötzlich hebt er die Hände weg und sagt ein langes ahhhhhh, alle sagen ein langes ahhhhhh, die Flöte hört mit ihrem Staccato auf, und das Ritual ist zuende.

Während die Flöte noch leise und leicht weiterspielt, lachen die anderen alle, und Ragi und ich sehen uns erstaunt um, was ist das hier? wo sind wir hier? ist das eine Zauberei? was ist geschehen?

Anuragini geht in die Küche und holt ein Tablett mit vielen Schalen und einer großen Kanne eines würzigen Tees, die auf einem Stöfchen steht — zur Entspannung nehmen wir dankbar den Tee, doch Ragi und ich sind noch zu sehr erstaunt um uns ins Trinken zu vertiefen, wir können nichts anderes als uns ansehen und umherschauen. Plötzlich bricht sie in Weinen aus, in lautes Weinen. Fragend sieht sie zu Shivadas, und wie er nickt, wirft sie sich in meine Arme, und nun weinen wir beide zusammen, bis nach einigen Minuten das aufhört und wir auch laut anfangen zu lachen. Noch immer frage ich mich, was war das nur?

Später erklärt Shivadas einiges: einen Segen habe ich euch gegeben, einen sehr kraftvollen Segen, erst habe ich euch zusammen in eine Hindu-Hochzeits-Zeremonie geführt, und dann habe ich mit euch Shaktipath gemacht, habe euch mit meinen Daumen eine riesige Energie gegeben, in die Stirn gegeben. Das geht nie ohne ausgedehnte Rührung vor sich, und es ist sehr heilsam. Im Weinen habt ihr euch selbst erlebt und anerkannt.

Nach einigen Tagen reisen alle Gäste wieder ab, nach London und nach Calcutta. Es ist leer hier geworden, und maches aus dem gelobten Indien ist wieder verschwunden, vieles aber stärker und überzeugender für mich geworden.



Kapitel XII - Der Spiegel, die Federn

Im Wohnzimmer haben die Frauen einen großen Spiegel, der von bunten Tüchern umhängt ist, und Trockenblumen und anderen bunten Dingen. Den ganzen Körper können sie darin ansehen und bewundern. Auch liegen da kleine Kartons mit Schmuckzubehör, und Beutel mit allerlei Geheimnissen hängen an der Wand. Aus einigen Beuteln strecken sich faserige bunte Federn heraus.

Immer wieder besehen die beiden sich in diesem Spiegel, ich liebe meine Schönheit, ich feiere meine Schönheit, sagt Anuragini immer wieder dazu, streicht sich die Haare zurecht oder legt ein Tuch noch wieder anders um ihren Hals, ändert die Farbe ihrer Schminke irgendwo. Und Ragi ist genau so eitel, wie mir scheint. So sind Frauen eben, denke ich mir dazu. Immer wieder gehen die beiden zu dem Spiegel, drehen sich und lachen, schwenken ihre Kleider und bewundern ihre Beine, streichen liebkosend über ihre Beine, ihre Brüste — oder sind auch mal besorgt, daß etwas nicht so wirkt wie es soll. Und wenig achten sie auf mich, außer daß sie mal sagen, guck mal, ist das nicht etwas Besonderes? Guck mich mal an, du, du siehst so unbeteiligt aus, so gelangweilt — und dann geht´s weiter.

Nach der Sache mit dem anderen Jungen und noch mehr nach dem Shaktipath-Ritual mit den Indern bin ich sehr feinfühlig geworden und verehre die Frau in Ragi unendlich. Alles mit ihr berührt mich sehr, und wie ich dieses vor dem Spiegel erlebe, schwanke ich zwischen Zuneigung und Betroffenheit. Ich verstehe nicht, was ich da sehe, ich möchte es tief innen erleben, denn es ist ihr Leben. Doch es stößt mich auch ein wenig ab, ist so fremd, obwohl ich doch weiß, daß die meisten Frauen so sind.

Sie fordern mich auf, mich ebenso schön zu kleiden und meinen schönen Körper in seinem Schmuck zu bewundern, ihn als meinen Tempel anzusehen, den ich bewohne und schmücke. Das ist mir unheimlich, ich wehre ab: Was heißt denn das: mein Körper ist mein Tempel? frage ich. Mein Körper und ich, wir sind doch eine Sache, oder etwa nicht? Da kann er nicht mein Tempel sein.

Ragi kommt und umschmeichelt, streicht an meiner grauen Alltagskleidung umher ... wieviel schöner würdest du in meinem roten Kleid aussehen, wie neulich, oder? Bitte zieh es doch mal an.

Sehr unsicher bin ich, Anuragini aber sagt, in meinem schönen und gesunden Körper lebe ich, er ist mein Haus, mein Tempel sagen sie in Indien eben.Und wer bin ich dann? frage ich. Und überhaupt: mir kommt das ziemlich ungewöhnlich vor, sich selbst so zu loben und zu lieben. Ist das normal? Das tun doch nur unbescheidene Menschen, die am liebsten Politiker sein wollen. In solchen Momenten frage ich mich verärgert, ob dies hier überhaupt mein Platz ist, was soll ich hier, geht das alles nicht zu weit? Mißmutig gehe ich in den Garten und setze mich unter einen Baum. Frauen sind Frauen, auch diese beiden, grummele ich mir noch mehr Unmut an. Das ist doch reichlich viel, dieses Getue um die Schönheit im Spiegel. Schön anzusehen sind sie ja, das will ich meinen. Doch warum müssen sie sich das immer wieder selbst im Spiegel ansehen und noch dazu an sich herum zupfen und malen, dadurch können sie doch auch nicht schöner werden.

Ragi kommt zu meinem Baum und steht verlegen vor mir. Magst du etwas nicht, ist etwas hier nicht recht? fragt sie. Ich erkläre ihr, wie es mir geht. Ragi sagt, tatsächlich, so sind wir Frauen. Laß uns doch, lieb uns, wie wir so sind, bitte. Möchtest du mit Frauen zusammen sein? Dann mußt du sie ganz nehmen, so wie sie sind, ganz und unverändert, oder? — Und wie sie ihr „oder?“ sagt, bin ich wieder hin geschmolzen, der Grummel fliegt weg, so schnell geht das. Komm doch mal mit, stell dich mit an den Spiegel, sieh mal zu, was ich da tue. Es macht mir einfach Spaß, das Ganze. Ja, ja, ich weiß, schöner kann ich dadurch nicht werden. Doch es ist der Spaß, weißt du.

Ragi gibt mir einen kleinen Kamm in die Hand: spiel doch mal mit deinen Haaren, lege sie mal so, mal anders — und das Ganze wird so witzig, daß ich bald lustig lache, beide lachen wir immer mehr. Sie schmiert meine etwas zu langen Haare mit einem Haarfett ein und zwirbelt sie in der Mitte nach oben zu einem stehenden Zopf und bindet ein rotes Band darum mit einer Schleife. So gehen wir morgen in die Schulen, ja? Ach, ich würde so nicht einmal zum Fasching gehen, denke ich.

Dieses Spiel — oder was ist das? Etwas verstehe ich nun schon, daß Frauen so sind, denn bald bin ich auch ein wenig so, spiele im Spiegel mit meinen Haaren ... Wir schminken uns das Gesicht, die Lippen, bemalen die Augenbrauen und machen anderen Unsinn. Ragi nimmt einen dieser Beutel, in dem viele bunte Federn sind: die stecken wir uns jetzt in die Haare. Und dann kommt sie auf eine große Idee: mit einigen der bunten Federn bohrt sie kleine Löcher in die Strümpfe und steckt die Federkiele rein, bald sind ihre Beine ganz befedert. Sie holt den Fotoapparat hervor, und nun geht es wieder los mit meinen Versuchen. — Wie gut, daß wir grade einen Farbfilm drin haben, aber der ist teuer, und du darfst nur wenige Bilder knipsen.

Und nun müssen wir das gleiche mit deinen Beinen machen. Ich hole dir erstmal wollene Strümpfe und Strumpfhalter, denn straff müssen die Strümpfe sein, sonst geht es nicht. Jedenfalls sind nach einer viertel Stunde meine Beine ebenso befiedert wie Ragi´s, und wir denken uns aus, wie wir mal in dieser Tracht zu einer Fête gehen wollen. Wir könnten uns noch Vogelmasken machen aus Pappmaché.

Ich ziehe die Federn vorsichtig wieder aus den Strümpfen, und Ragi sagt, ich werde dir mal deine Beine streicheln, durch die Strümpfe, das ist ein großes Gefühl. — So richtig kenne ich das Gefühl nicht mehr, denn seit Jahren habe ich keine langen Strümpfe mehr getragen. Und niemals hat mir jemand über die bestrumpften Knie gestrichen, wie Ragi es nun tut — nur ich selbst, und das war auch schon ganz gut! Doch nun: diese Frauenhand auf den Strümpfen, durch die Strümpfe, das müsst ihr auch mal probieren! Doch nicht immer ist eine Ragi in der Nähe, ich lerne, mir diese Freuden selbst zu geben.

Schließlich kann die Ragi mich überzeugen, hat mich hinüber gezogen auf ihre Seite: nun stehe ich auch vor dem Spiegel, nun streichele ich mir selbst die Beine und den Leib, nun beginne ich auch, mir das eine oder andere bunte Tuch — mit kleinen goldenen Elefanten drauf, vielleicht — umzuhängen. Das alles dauert lange, Wochen, und langsam entdecke ich, wie es sich für eine Frau anfühlen mag — Ragi hat mir viel gezeigt, noch nie konnte ich so viel lachen.

Nun verstehe ich schon ein wenig, wenn Ragi sagt, fühle deine Innere Frau, auch sie ist ein Teil von dir. Sie ist eine so schöne Frau, ich liebe sie! Frauen sind doch so schön, selbst dann, wenn sie unsichtbar tief innen steckt, in mir!

Nur frage ich mich, wie ist denn der Innere Mann, wie kann es gelingen, daß Ragi ihn spürt und uns davon berichten kann? Ich weiß es nicht. Lange spreche ich mit Anuragini darüber, und wir finden: wir wissen alle nicht, was das ist, der Innere Mann. Dann sagt Anuragini etwas Eigenartiges, die Innere Frau sagen wir zwar, aber in Wirklichkeit ist das doch der eigentliche Mensch, sozusagen der Urmensch. — Den Inneren Mann gibt es vielleicht gar nicht ... mir ist so, als ob der Mann eher gemacht ist, so als ob er künstlich auf den Urmenschen aufgesetzt ist. Er ist künstlich. Doch wer hätte das gemacht?

Tage später sagt sie, vielleicht ist in jedem Mann seine Innere Frau, oder sein Urmensch, doch er kann das nicht sehen, sein übergestülpter Mann ist zu mächtig, ich möchte mal sagen, er ist zu laut.

Anuragini sinnt eine Weile vor sich hin. Das Wort Urmensch gefällt mir hier nicht, es erinnert so an Neandertaler und deren primitive Kultur, wenn sie überhaupt eine hatten. Ich frage, können wir für Urmensch nicht ein anderes Wort benutzen? Es fällt nichts ein. Anuragini denkt an etwas anderes:

Ich weiß nicht, was die Wissenschaftler dazu sagen, doch aus Indien habe ich gehört, was dem Embryo des Jungen im Mutterleib passiert. Sie sagen: eine Säure entsteht im Körper des Embryo´s, der mal ein Junge werden wird, und diese Säure breitet sich im Jungen aus und gestaltet in seinem Gehirn das Denken und Fühlen des zukünftigen Mannes , macht den Mann aus dem Kind, unterscheidet ihn von der Frau — im Verhalten und Denken ist wohl gemeint. (Endnote 32)

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An einem anderen Tag fragt Anuragini, ob ich ein paar Stunden Zeit habe, und Ragi und ich sollen uns auf den Fußboden legen, sie will uns etwas besonderes zeigen. Sie nimmt eine kleine Flöte und spielt etwas ganz einfaches, sie sagt, lieg ganz flach auf dem Boden, laß deinen Körper ganz nach unten sinken auf den Boden — und wieder die Flöte. Ich lasse meinen Körper ganz los, wirklich, es ist als ob alles in ihm nach unten sinkt — die Flöte spielt leise, meine Augen sind zu.

Anuragini läßt uns fühlen: dein Körper sinkt in den Boden, alles sinkt nach unten. Du fühlst jedes Teil in deinem Körper. Du fühlst wie das Blut pochend durch die Adern fließt, du hörst deinen Herzschlag, bewege dich nicht — wieder die Flöte leise und zart. — Nun lenke deine Gedanken an das untere Ende deines Bauches. Etwa dort, wo die Blase ist, spüre die Blase, ist sie voll oder leer oder wie fühlt sie sich grade an. Es ist als ob du in deinem Körper umher gehst und alles ansiehst. Sieh dir nun das Umfeld deiner Blase an.

In dieser Gegend ist eine Stelle, an der sich viel Kraft ansammelt, es ist als ob dies das Gebiet ist, wo dein ganzer Körper seine Grundlage, sein Fundament hat.

Hier ruht der Körper, hier ist sein Fundament ... sein Fundament.

Ja, ich kann es fühlen, nur braucht es eine viertel Stunde oder so, bis ich meinen Körper so fein empfinden kann, wie Anuragini es sagt. Sie läßt uns die Hände auf den Unterbauch legen und sagt, fühle, wie sich beim Einatmen die Luft in deiner Lunge ausbreitet, und weiter in den Unterbauch. Und wie beim Ausatmen der Bauch und die Lunge wieder zusammen fallen. Beim Einatmen breitet sie sich wieder aus ... Und nun stell dir vor, daß beim Einatmen die Luft sich nicht nur in der Lunge ausbreitet sondern noch viel weiter, im ganzen Körper. Jetzt hängt alles von deiner Vorstellung ab, stell es dir vor! Und fühle, wo du die Luft hinleitest — in der Vorstellung!

Mein Atmen wird etwas langsamer, überall im Körper ist jetzt der Atem, füllt es sich mit Luft und leert sich wieder. Mehr und mehr spüre ich den Körper innen, wie noch nie vorher. Nach zehn Atemzügen sagt Anuragini, beim Einatmen leite nun die Luft besonders an die Stelle, wo deine Hände liegen. Es ist als ob unter deinen Händen sich die Luft ansammelt, sogar werden die Hände etwas angehoben von der Luft in deinem Körper. Und sinken wieder runter, wenn du ausatmest. Doch bemühe dich nicht, laß den Atem einfach so raus und rein gehen, wie er selbst will.

Und nun spüre, wo der Mittelpunkt in dieser Körpergegend ist, spüre, wo du dich als Frau, als Mann fühlst, das ist nämlich hier irgendwo, und atme genau da hin. Laß den Atem so raus und rein gehen, wie es von selbst kommt, bemühe dich nicht. Sieh nur an, wie der Atem geht und deinen Körper bewegt, und wie er dahin strebt, wo ich es dir eben sagte.

Ja, ich fühle es, etwa da, wo der Lingam aus dem Leib kommt, drei Finger breit weiter drinnen, da ist es — und für Ragi ist es, wie sie später sagt, noch weiter im Bauch, tief innen, geschützt von der Bauchdecke und allen Organen da drin. Anuragini läßt uns weiter dahin atmen, und ich merke, die Stelle, wo der Atem hin geht, verändert sich etwas, wandert, ist mal hier, mal da in der Umgebung der ersten Empfindung.

Anuragini sagt zu uns, nun stell dir vor, daß dein Atem nicht wieder durch die Lunge hinaus strömt sondern ... er verläßt beim Ausatmen den Körper ganz nahe an der Stelle, wo du dich als Frau, als Mann fühlst, sieh, wo das ist, und wo der Atem nun fließt ... und durch die Lunge wieder rein ... ich merke wie ich meine Beine etwas spreize und wie der Atem zwischen den Beinen wieder hinaus fließt. Alles in einer sehr lebendigen Vorstellung.

Stell dich einen Augenblick hin, stell die Beine etwas auseinander und laß deinen Atem von dieser Stelle aus in die Erde strahlen, die Erde nimmt ihn auf. Und aus dem Himmel atme wieder ein, oben durch den Kopf, durch den Scheitel. Ich sehe die Erde unter mir, sie ist erdig braun, an manchen Stellen hat sie aber eine rote Farbe, dunkelrot, ja, nun sieht es wie dunkelrote Kristalle aus, diese Erscheinung breitet sich aus.

Wenn du einatmest, laß den Atem aus dem blauen Himmel in deinen Kopf eintauchen, in deinen Scheitel. Der Atem breitet sich hell und strahlend im Körper aus und verläßt ihn beim Ausatmen wieder in die Erde hinunter.

So stehen wir ein paar Minuten, und ich sehe, wie mein Atem so geht, wie Anuragini es vorher sagte. Legt euch wieder auf den Rücken, die Augen bleiben zu. Stefan, nun stell dir vor, daß dein Körper und deine Seele eine Frau ist. Vielleicht kennst du sie schon etwas, es ist deine Innere Frau, es ist der Anteil an dir, der fraulich ist. Und du Ragi, stell dir deinen Inneren Mann vor, es ist der Teil an dir, der männlich ist. Spürt selbst, was das bedeutet; was ist es, das wir Innere Frau, Inneren Mann nennen.

Ich beginne, mir vorzustellen, wie ich Brüste wie eine Frau habe, wie meine Stimme wie die einer Frau ist, wie ich nicht männliche Geschlechtsteile habe sondern frauliche. Es kommt das Bild, daß der Mittelpunkt meiner Inneren Frau weiter im Innern liegt, nicht so nahe am Lingam; diese Vorstellung entsteht von selbst. Noch immer atmen wir wie vorher, nur daß sich nun mein Atem mehr dahin lenkt, wo meine Innere Frau ihre Mitte hat, tief innen im Unterbauch. Und ich sehe auch meine Joni, und spüre eine Verbindung zwischen der Mitte im Unterbauch und der Joni — hier öffne ich mich als Frau nach außen, vorsichtig und achtsam, zögend und mich selbst schützend und bewahrend.

Nun Stefan, nun bist du außen Frau, nämlich die Frau, die du schon kanntest, die sonst tief in dir wohnt und dein Leben von der fraulichen Seite begleitet. Und innen ist nun dein Innerer Mann. — Jetzt aber kommt dein Geliebter, ein anderer Mann, der dich bewundert und den du liebst, der sich dir nähert und deinen Körper an den schönsten Stellen streichelt und liebkost. Und das spüre, ganz hingegeben, fühle dich als hingegebene Frau. Und dein geliebter Mann liebkost deinen Körper, denn dein Körper ist der Körper einer Frau.

Anuragini wird still, nur auf der Flöte spielt sie, doch das Flötenspiel wird stärker, lebendiger und auch tiefer, und ich werde als Frau erregter und meine Gefühle nähern sich meinem Geliebten, bis unsere Körper sich berühren, ich biete ihm meine Joni an und sein geliebter Lingam dringt in mich ein, ist fest und stark und füllt mich ganz aus und hält mich am Boden fest, und ich umfange dieses große Glied in meinem Bauch und halte es und bewege mich mit ihm auf und ab, so weit es eben geht bei dieser Mann-Kraft, die mich niederpresst. Anuragini aber erinnert uns an das Atmen: gleichzeitig atme und laß den Atem deinen ganzen Körper erfüllen.

Lange Zeit liegen wir so und bewegen uns wie es gefällt bis schließlich sein Lingam in einer gemeinsamen großen Bewegung überströmt und meinen Bauch warm ausfüllt, warm fließt es in meinem Bauch und das macht mich glücklich und füllt auch meine Seele. Lange noch bleiben wir so liegen bis schließlich Anuraginis Flötenspiel ausklingt, wir werden daran erinnert, wo wir sind: komm wieder zurück in deinen ursprünglichen Körper, Ragi als Frau, Stefan als Mann. Komm wieder zurück in unser Wohnzimmer.

Zu Musik von einer Schallplatte tanzen wir zaghaft und verschämt etwas, doch bald legen wir uns auf die Bank, und Ragi und ich umarmen uns und liegen lange und spüren nach, was es vor kurzem noch gab.

Nachmittags sitzen wir im Garten und erzählen uns unsere Erlebnisse. Ich merke, daß Ragi das Ganze nicht so tief empfunden hat wie ich. Mir ist meine Innere Frau sehr begehrenswert geworden, ich weiß nun, weshalb ich mich immer so nach Ragi sehne: sie ist eine Art Spiegelbild meiner eigenen Inneren Frau!



Kapitel XIII - Tantra-Tempel in Indien, ein Bericht von Ragi´s Vater

In einem Album gibt es von Prakash, Ragis Vater, viele Zeichnungen und Fotos und Texte über eine besondere indische Tempelanlage. Das Dorf, wo diese Tempel stehen, heißt Khajuraho (Endnote 34). Prakash schreibt dazu, hier hätte er die stärkste — und gleichzeitig vernünftigste — Form von antikem Tantra in Indien gefunden. Anuragini gibt mir das Album und sagt, ich solle doch mal einiges davon in mein Buch schreiben, sie fände das wichtig. Prakash hat seiner Frau nur Zettel und Fotos geschickt, zum Teil hat aber auch Shivadas noch Notizen von Prakash´s Hand mitgebracht. Und ein Blatt ist dabei, vielleicht aus einem Buch entnommen, da ist eine Zeichnung des Mahadeva Tempels in Khajuraho drauf, das ist der Kandariya-Shiva-Tempel (Bild 31, Buch 6).

Doch Anuragini hat alles so zusammen gestellt, wie es nun in diesem Album ist. Über Khajuraho und die Tantra-Rituale — wie Prakash sie gesehen hat — schreibe ich hier einiges ab, weil es vielleicht vom alten indischen Tantra manches erleuchtet. Aus Prakash´s knappen Tagebuch-Texten also: »In Indien finde ich in Khajuraho (liegt 200 km südlich von Allahabad) noch hehre Reste von architektonischen Zeugnissen der indischen Tantra-Lehre, die im Mittelalter ihre Blütezeit hatte. Ich schreibe es hier so, wie ich es mit meinem europäisch-indisch gemischten Verstand begreife und deute. Tantra ist eine Lebensweise, die will, daß Frauen und Männer in großer eigener Identität und Freiheit leben, es ähnelt insofern dem Buddhismus. Doch dieser hat sich viel mehr auf festgelegte Rituale und Lehren festgelegt und hat ein reges Gemeindeleben. Mit der eigenen Freiheit ist im Tantra gemeint, daß jeder Mensch den echten eigenen Charakter lebt und erlebt, so wie er ihm angeboren ist — gleich welcher Religionszugehörigkeit oder Gesellschaft. Ein solcher „Tantrika“ lernt zu verstehen, wo der Unterschied zwischen seinem angeborenen und seinem erworbenen (= anerzogenen und erlernten) Charakter liegt. Kannst du erstmal diesen Unterschied klar sehen, ist das Leben ein Stück weit einfacher. Nämlich, das Leben einfacher zu machen, war Sinn des antiken Tantra, denke ich jedenfalls — das war auch Buddhas Ansatz.

Ich fand über 22 Tempel, einige intakt, andere nur noch in Ruinen, nur noch Fundamente sind da. Besonders die intakten Tempel habe ich besucht. Ich denke mich mal 1000 Jahre zurück: bevor wir das Innere eines Tempels betreten dürfen, um andächtige Rituale vor dem Symbol der Gottheit zu feiern (die Hindus nennen das „puja“ mit weichen sch wie in journal), bekommen wir Gelegenheit, unsere Seelen zu reinigen — so erzählte mir das vor ein paar Tagen ein alter Mann (er heißt Shri Chandeela), der mich umher führte. Shri (das ist Herr) Chandeela ist Großbauer, der seine Familie zurückführt auf die alte Königsfamilie von Khajuraho. Er empfindet sich als ein echter Tantrika, Tantrika im alten indischen Sinn.

Hier stehen also noch immer, 800 Jahre nachdem die Blüte des Tantra in diesem Land „Jejaka-bhukti“ (in englischer Transkription) verloschen ist, die Zeugen dieser Blüte, nämlich diese Tempel. Hier sollen ursprünglich 80 Tempel der tantrischen Kultur gestanden haben. Sie werden bei Historikern und Kunstverständigen als das Vollständigste, Eindrucksvollste und Schönste, was indische Bildhauerkunst je hervorgebracht hat, eingeschätzt. Ich bin den Erbauern der Tempel dankbar, daß es diese Tempel gibt und daß sie nach so langer Zeit noch so gut erhalten sind. Es wurde nämlich ein feiner und fester Sandstein verwendet, der allen tropischen Verwitterungen stand hält. Manche Tempel sind jedoch abgerissen worden, andere mögen zerwittert sein, weil sie vielleicht aus anderem Stein bestanden.

Die Tempel sind außen und zum Teil auch innen mit unzähligen, ja tausenden von in Stein gemeißelten Figuren geschmückt, über die ich viel gerätselt habe. Shri Chandeela hat manches erzählt, doch wie es im Tantra so ist, hat er gewiß auch vieles geheim gelassen.

Was haben diese Tempel bedeutet? Was sollten die Figuren sagen? Erstmal, was ich von Shri Chandeela über die Geschichte des Landes hörte:

„In unserem Mittelalter regierte hier das Königshaus der Chandeela-Dynastie (9. — 13. Jahrhundert in westlicher Rechnung) über das Reich Jejaka-bhukti (das Gebiet nennt man heute Bundelkhand) in der damals Khajuravataka genannten Stadt (Khajura = Dattel, Vatika = Garten). Die Chandeela-Könige sollen von einheimischen Stämmen, den Ghonds, abstammen.“ So weit Shri Chandeela.

Es gibt über Khajuraho nur wenige schriftliche Berichte aus dem indischen Mittelalter, die mir aber nicht bekannt sind. Shivadas will sich in Calcutta nach alten Quellen umsehen, aber er hat Zweifel, ob das schnell gehen mag. Wie er sagt, hatte der weitgereiste Araber IBU-C-BATUTA (IBN BATTUTA) „Kajrao“ 1315 besucht. Er erwähnte die vielen Tempel, die um einen See liegen, doch ich kenne dieses Werk noch nicht. Da sollen aber keine weiteren Details zu finden sein.

Weiter von Shri Chandeela: „In der Blüte-Zeit hat es 85 Tempel gegeben, von denen jetzt nur noch 15 gut erhaltene übrig geblieben sind. Ein paar weitere Tempelanlagen, die dort stehen, sind heute mehr oder weniger zerstört oder von anderer Art. Einige sind integriert in heutige Jaina-Tempel oder werden als Hindu-Tempel benutzt. Die besseren von den antiken Tempeln werden heute von der britischen Kolonial-Regierung renoviert. So sehr die Briten auf uns heutige Inder von oben herabsehen, so sehr schätzen sie doch immer wieder unsere alten Kulturzeugen und bemühen sich um deren Erhaltung.“

In dem renommierten Buch „Oxford History of India“ ) wird leider nur ganz wenig über diese schönen und wertvollen Anlagen berichtet (obwohl der Autor Mr Smith sie selbst besucht hat). Das ist schade, denn wie ich das sehe, ist Tantra eine wichtige Botschaft der indischen Kultur und der indischen Seele an die Menschheit, und hier ist wahrscheinlich viel Reines und Lehrreiches erhalten geblieben. Wenn es mal gelingen sollte, die Tempel wieder in Betrieb zu nehmen und so zu nutzen, wie es damals gedacht war, dann kann der Menschheit eine große Lehre zuteil werden, und vielleicht kann die Menschheit dann den großen Wandel endlich erleben, der so nötig ist, um all diese schlimmen Taten und Emotionen zu vermeiden, besser, zu überwinden.

Doch mir scheint, dazu ist die Menschheit viel zu sehr verfangen in all ihre Philosophien, Religionen, Politiken usw. Die Menschen werden sich hüten, sich da hinaus zu begeben, endlich mal über den Tellerrand zu sehen in die große Reinheit und Freiheit und Frische. Dazu könnte Tantra uns verhelfen. Aber in all den Philosophien, Religionen, Politiken usw zu verharren ist viel zu bequem, Tantra ist zu voll von Risiken, die eigene Persönlichkeit zu verlieren und statt dessen einmal ganz zu sich selbst zu gelangen.

Herr Professor Helmuth von Glasenapp, mein hoch geschätzter Lehrer, hat leider kaum mehr an wesentlichen Angaben über Tantra und Khajuraho gemacht. Deswegen bin ich ja hierher gereist, um das Versäumte nachzuholen — so weit es für einen in indischer Tradition wenig gebildeten Ausländer möglich ist.

Die Vielfalt der Bilder an und in diesen Tempeln ist so groß, daß es mich wundert, wie wenig hohe Gelehrte ihnen an Bedeutung beimessen. Ich vermute, bei genauem Studium werden uns Details — oder mehr — der indischen spirituellen Geschichte und Botschaft offenbart, von denen wir im Westen heute nichteinmal etwas ahnen. Und wie steht es mit den traditionellen indischen Gelehrten? Sie ahnen wohl was, aber jedenfalls mir haben sie sich nicht voll geöffnet.

Es gibt verschiedene Formen von Tempeln in Khajuraho, doch am häufigsten und auffallendsten sind die Tempel, die sich in einen wohl 30 m über den Erdboden erhebenden Turm („Shikara“) zuspitzen. Es scheint, daß alle diese Tempel mit gleichem Ziel gebaut wurden — wenn ihre Entstehungen angeblich auch Jahrhunderte auseinander liegen. Shri Chandéla sagt, der Bauherr sei immer der jeweilige Chandéla-König gewesen.

Im Grunde ähnelt sich die Struktur aller dieser betürmten Tempel: Das eigentliche Gebäude steht auf einem 3 m hohen steinernen Sockel mit einem Steinzaun darum (doch nur noch ein Tempel verfügt über einen vollständigen steinernen Zaun), zu dem eine Treppe mit hohen Stufen hinaufführt. Einige der Sockel sind sehr geräumig und auf ihnen könnten einige hundert Menschen stehen oder sitzen. Erst in der Mitte des Sockels steht der eigentliche Tempel, wiederum erhöht über dem Sockel, und die Fortsetzung der genannten Treppe führt in den Eingangs-Raum, „Mandapam“; dann folgt eine weitere kleine Halle; als nächstes kommt der Andächtige in einen Raum, „Antaral“ genannt, worin vier oder acht Säulen ein monolithisches Dach tragen (ich schätze es ist wohl 20 Tonnen schwer), in der Mitte des Antharal ist ein um 20 cm erhöhtes Podest mit einer kleinen Feuerstelle; von dort erblickt er das Allerheiligste, „Garbha-griha“ (in antiken griechischen Tempeln „Cella“ genannt), das ist der Schrein mit dem Bild oder dem Symbol der Gottheit. Ich vermute aber, daß die Andächtigen nicht ins Garbha-griha gelassen wurden, sondern nur die diensthabenden Priester hineindürfen.

Im Antaral könnten nicht mehr als dreißig Menschen sitzen.

Dies ist das Schema der größten Tempel, andere aber sind innen einfacher gebaut, so kann das Mandapam fehlen oder auch das Antaral — wie beim wunderschönen Parsvanath-Tempel.

Das Garbha-griha kann bei einigen innen umgangen werden, es ist zu dem Umgang hin wie das Äußere des Gebäudes bedeckt mit Figuren. Im Innern des Garbha-griha steht die Skulptur einer Gottheit oder ihr Symbol — entweder ihr menschliches Bild oder ein abstraktes Symbol.

So steht im Garbha-griha des Kandariya Mahadev Tempels (der auf dem alten Stich (Bild 31) gezeigt ist) Gott Shiva´s „Lingam“ (sein aufgerichteter Lingam), er ist umfaßt von der „Joni“ der Göttin Shakti (ihre Joni) — wie an tausenden Stellen in Indien.

Das äußere jedes dieser Tempel ist übersät mit Skulpturen von Göttern, Menschen, Engeln, Dämonen, Elefanten und anderen Tieren und zahlreichen graphischen Symbolen — alles mit größter Klarheit und Reinheit in widerstandsfähigem Sandstein gebildet. Außerdem finden sich da noch Fabeltiere, besonders häufig das „Shardul“.

Shri Chandéla zeigte mir ein altes Buch des mittelalterlichen indischen Architekten Ramachandra Kaulachara, der zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert lebte, und übersetzte mir einiges ins Englische. Wie Kaulachara in diesem Buch über andere Tantra-Tempel geschrieben hat, sind die Tempel mit großer Sorgfalt in den Raum gestellt worden, genau nach den astronomischen und erdigen Bedingungen (Endnote 37) ausgerichtet. Zugrunde liegt ihnen nach diesem Buch ein graphisches Symbol, ein „Yantra“, das von einem Priester zu Beginn des eigentlichen Baues als Grundmuster zeremoniell in den Boden geritzt worden war.

So weit eine kurze Beschreibung. Mehr Details habe ich in anderen Notizheften nieder geschrieben (die ich hier nicht reinschreibe).

Das habe ich — Stefan — hier mal eingefügt, um etwas Wichtiges über Tantra mitzuteilen. Wie Anuragini sagt, war das Tantra-Leben nicht auf ausgewählte Familien, Wohnungen oder Hütten beschränkt sondern die ganze Gemeinde war tantrisch — egal ob die Mitglieder hinduistisch oder buddhistisch waren oder zu der Religion der Jaina gehörten. Und Tantra war in der Commune nicht geheim — wie es heute in Indien sein soll.

Prakash hat noch versucht aus den Erzählungen von Shri Chandeela herauszufinden, wozu die Tempel überhaupt da waren. Und er hat um einen Tempelbesuch in mittelalterlicher Zeit eine Geschichte geschrieben, eine Fantasie-Geschichte (Endnote 38), die sicher nicht den Tatsachen damals entspricht, die ich hier aber doch abdrucken will:






nun weiter im Buch 6 - http://RagiundStefanSechs.blogspot.com

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